Vergil - Ecloge IX - Moeris


Ecloge IX



Moeris



Die gesellschaftspolitische Grundlage für die neunte Ecloge ist, wie für die erste und sechste, die Landverteilung in Mantua, die dieses Mal jedoch für Vergil nicht glimpflich ("haec mea sunt; veteres migrate coloni") ausgeht, da dessen Freund Pollio nicht mehr der zuständige Kommandeur ist. Der Verwalter des Gutes von Vergil - in diesem Gedicht der Sklave Moeris - schildert dem Jüngling Lycidas das Unglück seines Herren, der hier den Hirtennamen Menalcas trägt.













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Lycidas:
Quo te, Moeri, pedes? An, quo via ducit, in urbem?



Moeris:
O Lycida, vivi pervenimus, advena nostri
(quod nunquam veriti sumus) ut possessor agelli
diceret: "Haec mea sunt; veteres migrate coloni."
Nunc victi, tristes, quoniam fors omnia versat,
hos illi (quod nec vertat bene!) mittimus haedos.


Lycidas:
Certe equidem audieram, qua se subducere colles
incipiunt mollique iugum demittere clivo,
usque ad aquam et veteres, iam fracta cacumina, fagos,
omnia carminibus vestrum servasse Menalcan.


Moeris:
Audieras, et fama fuit; sed carmina tantum
nostra valent, Lycida, tela inter Martia, quantum
Chaonias dicunt aquila veniente columbas.
Quod nisi me quacumque novas incidere litis
ante sinistra cava monuisset ab ilice cornix,
nec tuos hic Moeris nec viveret ipse Menalcas.


Lycidas:
Heu! Cadit in quemquam tantum scelus? Heu! Tua nobis
paene simul tecum solacia rapta, Menalca?
Quis caneret Nymphas? Quis humum florentibus herbis
spargeret, aut viridi fontis induceret umbra?
Vel quae sublegi tacitus tibi carmina nuper,
cum te ad delicias ferres Amaryllida nostras?
"Tityre, dum redeo (brevis est via) pasce capellas;
et potum pastas age, Tityre, et inter agendum
occursare capro (cornu ferit ille) caveto."



Moeris:
Immo haec quae Varo, necdum perfecta, canebat:
"Vare, tuum nomen, superet modo Mantua nobis,
Mantua vae miserae nimium vicina Cremonae,
cantantes sublime ferent ad sidera cycni."


Lycidas:
Sic tua Cyrneas fugiant examina taxos,
sic cytiso pastae distendant ubera vaccae,
incipe, si quid habes. Et me fecere poetam
Pierides; sunt et mihi carmina; me quoque dicunt
vatem pastores: sed non ego credulus illis;
nam neque adhuc Vario videor nec dicere Cinna
digna, sed argutos inter strepere anser olores.



Moeris:
Id quidem ago et tacitus, Lycida, mecum ipse voluto,
si valeam meminisse; neque est ignobile carmen:
"Huc ades, o Galatea: quis est nam ludus in undis?
Hic ver purpureum, varios hic flumina circum
fundit humus flores; hic candida populus antro
imminet et lentae texunt umbracula vites.
Huc ades; insani feriant sine litora fluctus."


Lycidas:
Quid, quae te pura solum sub nocte canentem
audieram? Numeros memini, si verba tenerem:
"Daphni, quid antiquos signorum suspicis ortus?
Ecce Dionaei processit Caesaris astrum,
astrum quo segetes gauderent frugibus et quo
duceret apricis in collibus uva colorem.
Insere, Daphni, piros: carpent tua poma nepotes."



Moeris:
Omnia fert aetas, animum quoque; saepe ego longos
cantando puerum memini me condere soles:
nunc oblita mihi tot carmina, vox quoque Moerim
iam fugit ipsa: lupi Moerim videre priores.
Sed tamen ista satis referet tibi saepe Menalcas.


Lycidas:
Causando nostros in longum ducis amores.
Et nunc omne tibi stratum silet aequor, et omnes,
aspice, ventosi ceciderunt murmuris aurae.
Hinc adeo media est nobis via; namque sepulcrum
incipit apparere Bianoris. Hic, ubi densas
agricolae stringunt frondis, hic, Moeri, canamus:
hic haedos depone, tamen veniemus in urbem.
Aut si, nox pluviam ne colligat ante, veremur,
cantantes licet usque (minus via laedit) eamus:
cantantes ut eamus, ego hoc te fasce levabo.



Moeris:
Desine plura, puer, et quod nunc instat agamus.
Carmina tum melius, cum venerit ipse, canemus.


Lycidas:
Wohin führen dich deine Füße, Moeris? Etwa in die Stadt, wohin der Weg führt?


Moeris:
O Lycidas, lebendig sind wir dahin gelangt (was niemals wir fürchteten), nämlich dass ein Fremdling als Besitzer unseres Landes sprach: „ Dies ist mein, zieht weg, ihr alten Bauern.“
Jetzt, besiegt, traurig, weil der Zufall alles wendet, senden wir jenem diese Böcklein (was ungut verlaufen möge!).


Lycidas:
Freilich ohne Zweifel hatte ich gehört, wo Hügel sich allmählich zurücksenken und der Bergrücken sich von sanften Abhang herabsenken lässt, bis zum Wasser und den alten Buchen, schon gebrochenen Wipfeln, habe der Menalcas von euch alles mit seinen Gedichten bewahrt.


Moeris:
Du hattest es gehört, und es ging das Gerede; Aber unsere Gedichte, Lycidas, vermögen unter den martischen Waffen soviel, wie Chaonische Tauben vermögen sollen, wenn ein Adler kommt.
Wenn mich nun nicht eine Krähe links von einer hohlen Steineiche auf jede Weise zuvor gemahnt hätte, neue Steine zu bemeißeln, würde weder dieser deinige Moeris noch Menalcas selbst leben.


Lycidas:
Ha! Fällt ein so schlimmer Frevel irgendjemandem anheim? Ha! Wären uns deine Trostmittel beinahe mit dir zusammen entrissen worden, Menalcas?
Wer würde von Nymphen singen? Wer würde den Boden mit blühenden Pflanzen bestreuen, oder die Quellen mit grünlichem Schatten bedecken?
Oder die Lieder singen, die ich dir neulich stillschweigend gestohlen hab‘, als du dich unserer Liebhaberei, der Amaryllis, hingabst?
„Tityrus, bis ich zurückkehre (der Weg ist kurz), weide die Böckchen; Und führ sie nach dem Weiden zum Trinken, Tityrus, und während deines Tuns hüte dich, dem Geißbock zu begegnen (jener stößt mit seinem Horne).


Moeris:
Vielmehr das, was er für Varus, noch unvollendet, sang:
„Varus, deinen Namen, wenn nur Mantua uns übrigbleibe,
- Mantua weh! Zu nah dem elenden Cremona, -
werden die Schwäne singend hoch zu den Sternen tragen.“


Lycidas:
So wahr ich wünsche, dass deine Bienenschwärme Korsikas Eibenbäume meiden und deine Kühe, genährt mit Schneckenklee, ihre Euter vollfüllen: fang an, wenn du irgendetwas hast. Und mich haben die Pieriden zum Dichter gemacht; und ich habe Lieder; die Hirten nennen mich auch einen Weissager: Aber ich glaube jenen nicht leicht;
Denn bisher scheine ich weder dem Varius noch dem Cinna Würdiges zu künden, sondern als Gänserich zwischen den klangvollen Schwänen zu schnattern.


Moeris:
Freilich tue ich das und ich selbst, Lycidas, überlege mit dir, ob ich mich erinnern kann; Auch ist mein Gedicht nicht unbekannt:
„Komm hierher, o Galatea: Was ist denn das für ein Spiel in den Wellen? Hier ist purpurner Frühling, hier bringt Erdboden diverse Blumen rings um die Flüsse hervor; hier ragt eine Silberpappel über eine Höhle und biegsame Weinreben ihren Schatten flechten.
Komm hierher; Lass doch die tobende Fluten das Gestade peitschen.“


Lycidas:
Was hatte ich dich allein in klarer Nacht singen gehört?
Ich erinnere mich der Verse, wenn ich die Worte im Gedächtnis hab‘: „Daphnis, was siehst du aufwärts nach Entstehungen alter Sternbilder?
Siehe! Der Stern des dionäischen Caesar ist vorangeschritten,
der Stern, durch den sich unsere Saat über ihre Früchte freut und durch den sich die Traube auf den sonnigen Hügeln färbt.
Pflanze Birnbäume ein, Daphnis: Deine Nachkommen werden die Früchte ernten.“


Moeris:
Das Leben rafft alles hinweg, auch den Geist. Oft denk‘ ich daran, dass ich als Junge lange sonnige Tage mit Singen verbrachte:
Jetzt hab‘ ich soviele Lieder vergessen, auch seine Stimme flüchtet schon den Moeris: Wölfe haben den Moeris zuerst gesehen.
Aber wird dir doch Menalcas oft genug dies da vortragen.


Lycidas:
Durch dein Klagen verzögerst du unsere Begierde für lange Zeit.
Und jetzt, von dir geebnet, schweigt das ganze Meer, und, sieh, alle Winde stürmischen Getöses sind abgeklungen.
Eben hier ist die Mitte des Weges; Allmählich erscheint nämlich das Grab des Bianoris. Hier, wo Bauern dichtes Laub abschneiden, hier, Moeris, lass uns singen:
Lass die Böcklein hier, wir werden doch noch in die Stadt kommen.
Oder, wenn wir fürchten, dass die Nacht zuvor Regen schürt, dann möchten wir stets im Singen gehen (so fällt der Weg weniger beschwerlich):
Damit wir singend gehen, werde ich dich um diese Last erleichtern.


Moeris:
Unterlass weiteres, Junge, und lass uns tun, was jetzt bevorsteht.
Dann, wenn er selbst gekommen ist, werden wir seine Lieder besser singen.



Hilfen zur Übersetzung

(6) nec vertat bene : Negation des Sprichwortes bene vertat (möge es gut verlaufen)
(8) demittere : eigentlich herabschicken oder –lassen; hier reflexiv: sich herabsenken lassen. Weiterhin ist anzumerken, dass sich incipiunt (hier über das Adverb „allmählich“ aufgelöst) auch auf iugum bezieht, das ebenfalls Subjekt ist.
(14) quacumque : wie auch immer (Adv.)
(22) ferres : 2. Sg. Konj. Imp. Akt. v. ferre
(24) potum : Supin I von potare
(24) inter agendum : colloquial-Latein
(32) fecere : Alternativform für die 3. Pl. Ind. Perf. Akt. (erunt = ere)
(38) si : hier als Subjunktion gebraucht, um eine indirekte Satzfrage einzuleiten.
(46) antiquos signorum ortus : ὑπαλλαγή – die grammatische Zuordnung entspricht nicht der logischen: antiquos bezieht sich inhaltlich auf signorum.
(48) astrum, quo… : konsekutiver Relativsatz im Sinne von ein Stern so beschaffen, dass durch ihn…; der genannte Stern ist wahrscheinlich der Komet, der am Himmel während der Spiele 43 v. Chr. auftauchte und von Octavian zu Ehren des Julius Caesar als ein Zeichen von dessen Apotheose interpretiert wurde.
(49) colorem ducere : Farbe (an sich) ziehen = Farbe bekommen = sich färben
(56) in longum : auf lange Zeit (Akk. d. zeitl. Ausdehnung)



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